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Editorial

Marie-Luise Hermann

Die Idee, ein Jahr nach dem Jubiläum des Frauenstimmrechts ein Journal-Heft ausschliesslich den Frauen in der Psychoanalyse zu widmen, wurde massgeblich von Laura Wolf angestossen und im Call for Papers weiter konzipiert, nachdem sie die Redaktionsgruppe rasch mit Interesse für die Frage nach den frühen weiblichen Stimmen in der Entstehungszeit der Psychoanalyse in Wien und später international, nach weiblichen Positionen, feministischen Debatten und der Rolle der Frauen in der Profession und in der Geschichte des Psychoanalytischen Seminars Zürich angesteckt hatte.

Zu diesen Themen sind vielfältige Erfahrungen, Reflexionen und Diskussionen eingegangen, von Frauen über Frauen, auch wenn dies nicht ausdrücklich gewünscht war. 

Zum Auftakt spannt Ita Grosz-Ganzoni in ihrem Beitrag Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien – Eine persönliche «tour d’horizon» einen weiten Bogen, angefangen bei den ersten Psychoanalytikerinnen, die in der kritischen Auseinandersetzung um die Weiblichkeitstheorien Freuds in den 1920er und 1930er-Jahren eine zentrale Rolle spielten. Wie in der Frauenbewegung der 1970er-Jahre die Debatte um Kastration und Penisneid mit neuen Konzepten wieder aufgenommen wurde, verwebt die Autorin mit ihrer eigenen Sozialisation am PSZ, ergänzt durch frauenrechtliche und persönliche Erfahrungen und prägende Begegnungen.

Bigna Rambert rollt in Meine Frauenbefreiung: eine transgenerationelle Spurensuche mit einem Abstecher an eine Freudsche Mittwochsgesellschaft im Mai 1907 anhand der Geschichte ihrer Vorfahrinnen eine persönliche Sozialgeschichte Schweizer Frauenrechtlerinnen im 19. Jahrhundert auf, die Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals für das Frauenstimmrecht kämpften. Zur ähnlichen Zeit, in der ihre Grossmutter in Zürich das Medizinstudium abschloss, debattierte in Wien die Freudsche «Mittwochsgesellschaft» über das Thema «Weibliche Ärzte», in der Freud den Frauen eine geringere Sublimationsleistung zuweist als Männern. Theoretische Diskussionspunkte zu Bisexualität und phallischem Monismus führen die Autorin abschliessend bis zur neuen Frauenbewegung der 1970er-Jahre.

Die historische Perspektive verfolgt auch Nadja Kohler in ihrem Beitrag Ungehörte Stimmen. Über die Wiederkehr des Vergessenen. Sie widmet sich der Biografie Sabina Spielreins in kritischer Betrachtung patriarchaler Strukturen der frühen Psychoanalyse und der Analytiker-Analysandin-Beziehung. Sie argumentiert mit «sozialer Kastration», die sich auch in der Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur fortschreibe. Kohler würdigt Spielreins weitgehend in Vergessenheit geratene Arbeiten, in denen sie sowohl die Einführung der Methode der Kinderbeobachtung in die Entwicklungspsychologie als auch metatheoretische Konzepte vorwegnimmt, die später u. a. bei Freud, Piaget, Klein, Bion – ohne Erwähnung Spielreins – ähnlich auftauchen.

Einen weiteren theoretischen Denkrahmen steckt Cécile Huber in ihrer Arbeit Das Gesetz der Mutter. Überlegungen zu einer feministischen psychoanalytischen Rechtstheorie ab. Dem auf Freud und Lacan beruhenden «Gesetz des Vaters» im Rahmen des Ödipuskonflikts stellt sie drei psychoanalytische Ansätze zum «Gesetz der Mutter» von Geneviève Morel, Juliet Mitchell und Amber Jacobs gegenüber und überprüft sie auf ihre Übertragbarkeit für eine feministische Rechtstheorie. Dies eröffnet neue Perspektiven im aktuellen Geschlechterdiskurs.

Carolin Serena Cyranski liest den Mythos von Orpheus und Eurydike neu von der Figur der Eurydike – in Schönheit gestorben? Während Orpheus nach dem gescheiterten Rettungsversuch in der Unterwelt den Verlust Eurydikes bewältigen könne, ende der Mythos für diese ohne Bewältigung mit dem letzten Blick des Mannes auf sie. Die Autorin stellt feministisch-psychoanalytische Betrachtungen der Weiblichkeit in der Mythologie vor und entwickelt daraus eine eigene Deutung des Verbleibens von Eurydike in der Unterwelt als einem inneren Schattenreich, in dem sie vom Objekt zum Subjekt des Mythos wird.

Monika Gsell berichtet in Psychodynamische Aspekte der ästhetischen Chirurgie des weiblichen Genitales über einen Workshop, der im Oktober 2021 in Zürich stattgefunden hat. Anhand von fünf Falldarstellungen wurden dort Hypothesen ent wickelt, unter welchen Bedingungen kosmetische Eingriffe am Genitale zu mehr psychischem Wohlbefinden der Frauen führen können und wann dies im Rahmen von psychischen Konflikten eher nicht zu erwarten ist.

Zum Abschluss widmen sich zwei unabhängig voneinander entstande ne Darstellungen von Gruppendiskussionen dem Thema der Mutterschaft. Anna Brenner und Victoria Preis führten in Berlin zwei Gruppengespräche mit Frauen in psychoanalytischer Weiterbildung zum Thema Schwangerschaft in der psychoanalytischen Ausbildung durch, in denen u. a. Schwierigkeiten an den Aus- bildungsinstituten, Isolation, der Mangel an Information und Zementieren von Geschlechterrollen als belastend geschildert wurden.

Vera Luif führte mit sieben Zürcher Psychoanalytikerinnen verschiedener Generationen eine offene Gesprächsrunde zum Thema Psychoanalytikerin und Mutter. Im Beitrag werden die persönlichen Erfahrungen, welche Einflüsse Editorial 5 Schwangerschaft, Geburt und das Muttersein auf die analytische Beziehung und das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen haben, aber auch die Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen und Aspekten der «guten» und «schlechten» Mutter, mit Gesprächsaussagen belegt, die jeweils in Beziehung zur Literatur gesetzt werden.

In beiden Beiträgen wird deutlich, dass sich sowohl im persönlichen Erleben als auch in der theoretischen Auseinandersetzung eine konzeptuelle Idealisierung der Mutterschaft, hingegen im Umgang mit der Berufsrolle der Analytikerin als Mutter noch immer eine deutliche Marginalisierung abbildet.

Als verbindende Klammer verstehen wir das Titelbild von Ulrike Körbitz «Im Fall wachsen Dir Flügel»: Es kann für das fragile Gleichgewicht und den Balanceakt der Analytikerinnen mit ihrem Wunsch zu allen Zeiten der Psychoanalyse nach völliger Gleichstellung in der Berufsausübung und mit kritischen Konzepten zum weiblichen Körper, Sexualität und den Geschlechterverhältnissen stehen, der Titel aber ebenso für das Risiko des Fallens und den Wunsch nach Beflügelung und Wachstum. Wir danken Ulrike Körbitz, Psychoanalytikerin aus Österreich mit engen Verbindungen zum PSZ und Mitglied im Arbeitskreis «Feministische Psychoanalyse» herzlich für ihr bereicherndes Kunstwerk!

Ebenso herzlich danken wir allen Autorinnen, die sich mit grossem Engagement und persönlicher Offenheit für dieses Heft mit der Spurensuche im historischen Sinn der Frauenrechte, der Entwicklung der Psychoanalyse, aber auch dem eigenen Werdegang als Psychoanalytikerin auseinandergesetzt haben. Aus der Stille unseres Call for Papers wurde ein reicher Chor von Frauenstimmen aller Generationen.

Marie-Luise Hermann