Journal für Psychoanalyse, 62, 2021, 3–7
Editorial
Psychisches Erleben wird vielfach räumlich differenziert. Die Abgrenzung
von Innen und Aussen verhilft zu Struktur und psychischer Organisation. In ein
Innen und Aussen zu trennen, Fremd und Eigen voneinander zu unterscheiden,
bedingen die Ich-Entwicklung auf fundamentale Weise. Dabei bleiben Innen
und Aussen jedoch relativ und im (Da-)Zwischen stets verhandelbar. So kenn-
zeichnen Übergänge wichtige Entwicklungsschritte und werden gleichzeitig als
Gefährdung erlebt – Übergangsrituale dienen der Absicherung vor dem unge-
schützten Zwischenzustand wie der Anerkennung von Reziprozität. Doch kann
auch ein Aussen bedrohlich wirken, ein Innen bedroht sein oder umgekehrt jeweils
einen sicheren Zufluchtsort bieten. Die räumliche Metaphorik schien uns im Herbst 2019 eine interessante Aus-
einandersetzung mit zahlreichen psychischen Phänomenen zu bieten. Oszillieren
die Termini technici in klinischer Perspektive u. a. um innere und äussere Objekte,
Integration und Desintegration, Externalisierung und projektive Identifizierung,
spielt auch in kultur- und gesellschaftsanalytischen Fragen die Differenzierung
ei ner inneren und äusseren Realität eine wichtige Rolle.
Dass im Zuge der weltweiten pandemischen Entwicklung von COVID-19
reale Räumlichkeit und räumliche Vorstellung noch weitaus grössere Bedeu tungs-
überschüsse erhielten, war damals nicht abzusehen. Um so mehr geben die unwäg-
baren Verhältnisse Anlass, sich mit dem Spannungsfeld von Innen – Zwischen –
Aussen zu befassen. Für dieses Journal-Heft wurden, wie zu erwarten war, vielfältige Texte ein-
gereicht. Auf Beiträge aus psychoanalytisch-theoretischer Perspektive – beginnend
mit Freud, weitergehend mit Laplanche, Adorno, Winnicott und Lacan – folgen
Texte zu klinisch-technischen Fragen. Dort werden Schwerpunkte wie das Koma
oder die Dissoziation als Zwischenzustand, die Kastrationsangst als leitende ödi pale
Kraft, der Körper als Leerstelle bei trans Menschen und die Reproduktionsmedizin
als körperlich-seelisches Konfliktfeld erörtert. Gegen Ende zeigen zwei Texte, wie
sich Heimatverlust und Migration in einem besonders prekären äusseren und inne-
ren Dazwischen manifestieren können. Den Abschluss bildet eine Zwischensicht
auf die neuartige pandemische Krise als Kampf zwischen inneren und äusseren
Realitäten. Uorschla Guidon leitet das gesetzte Thema mit ihrem Text zu Freuds «Erin-
nern, Wiederholen und Durcharbeiten» ein. Sie nimmt sich der Frage nach der Ent-
© 2021, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht
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DOI 10.18754/jf p.62 .1
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stehung des psychischen Raums und der Differenzierung von Innen, Aussen, dem
Zwischen- wie Übergangsraum an und zeigt auf, wie die freie Assoziation psycho-
analytisch-entstehungsgeschichtlich als Mittel zur Schaffung des Übergangs von
Innen und Aussen eingeführt wurde. Anhand des Fallbeispiels des «Wolfsmann»
veranschaulicht sie zudem, wie psychisches Material durch den Wiederholungs-
zwang in die Übertragung gelangt und damit ein Innen in der therapeutisch evo-
zierten Situation zugänglich wird. Anna Koellreuter nimmt sich Laplanches Begriff «baquet» aus seinen Vor -
lesungen «Le psychoanalyste et son baquet» vor, welchen sie dezidiert als «Trog»
übersetzt und damit Laplanches Übertragungsbegriffen nachspürt. So würde der
Trog die Grenzen zwischen einem Innen und einem Aussen symbolisieren und
die psychoanalytische Situation versinnbildlichen. Diese innerhalb des Troges
zu verorten, hiesse vom triebhaften oder konflikthaften Innenraum zu sprechen,
da mit Analysandin und Analytikerin zwei unterschiedliche Potentiale – die eine
wolle etwas, die andere versage es ihr – aufeinanderträfen. Das Triebhafte zwi-
schen Analytikerin und Analysandin könne nur in diesem geschützten Innenraum
stattfinden. Indem die Analysandin ihr Hohles in der Höhlung der Analytikerin
unterbringen kann, um sich zu öffnen und zu analysieren, sei damit die Analyse der
übertragenen «Füllsel» – im Freud’schen Übertragungsverständnis Wiederholung
archaischer Situationen – möglich. Was am Ende einer Analyse mit der hohlför -
migen Übertragung geschieht und wie sich ein Ausserhalb dazu konstelliert, führt
Koellreuter zu einem interessanten Schluss. Wolfgang Bock zeigt mittels zahlreicher Bezüge zu psychoanalytischer
Theorie, literarischen Werken und dann vor allem Theodor W. Adornos umfang-
reichen Schriften differenziert auf, wie Adorno in seiner Forschung das psycho-
analytische Realitätsprinzip, welches er in der herkömmlichen Psychoanalyse
als zu reduziert befindet, um eine sogenannte «libidinöse Zone» erweitert. In
dieser «schies sen Phantasie und Wirklichkeit in einem verschlungenen Wahr -
nehmungshybrid von Innen und Aussen zu einem Narbengewebe zusammen». Dies
führt Bock weiter zu Fragen der Darstellung innerer Zustände von zunächst phä-
nomenologisch beschriebenen hin zu erzählten Erfahrungen, die sich auch Freud
in seinen zahlreichen Falldarstellungen nutzbar machte und was in der Erkenntnis
gipfelte, dass die Libidoentwicklung auf ein bestimmtes Wechselverhältnis zur
Aussenwelt verweist. Ulrich A. Müller beschäftigt sich in seinem Text mit Überlegungen Donald
W. Winnicotts zum Übergangsraum: Ausgehend von der Subjektwerdung des Säug-
lings anhand der Lösung aus der Mutter-Kind-Einheit entwickelt er Winnicotts
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Konzept weiter, indem er Bions Sichtweise auf Gedanken oder den Übertritt in den
Schlaf einer genaueren Betrachtung unterzieht. Dabei betont Müller die Wichtig-
keit von Schwellenerfahrungen, welche an den Grenzen ein Innen und Aussen
er schliessen und als dynamisierende Prozesse beschrieben werden. Kindliche
Ängs te werden demnach als Manifestationen auf der Schwelle verstanden, wenn
in nere Repräsentanzen noch nicht vollständig entwickelt werden konnten. Die
Schaffung eines Übergangsraumes heisse immer auch, sich dem Wagnis neuer
Erfahrungshorizonte auszusetzen, was stets mit der Bearbeitung ängstigender
Beschränkungen verbunden sei. Dagmar Ambass nutzt den Bericht der französischen Psychoanalytikerin
Diane Chauvelot über ihr Koma, um mit Bezug auf Françoise Dolto, Sigmund
Freud und Jacques Lacan der Frage nach der psychischen Innen- und Aussenwelt
sowie dem Dazwischen noch eine weitere Dimension hinzuzufügen. Als beson-
derer Zustand – weder Traum (da nicht von Tagesresten durchwirkt) noch Tod
(bei welchem das Unbewusste inexistent wäre) – wird das Koma beschrieben, in
dem Wahrnehmungen aus der Aussenwelt von der Sprache des Unbewussten auf-
genommen werden: im Koma sei man das Unbewusste. Dies wendet Ambass dann
auf die Frage, was real ist, an: Der Wachzustand oder die Wahrheit der menschlichen
Existenz, die beherrscht wird vom Unbewussten? Nikolaus Lehner verknüpft in seinem Beitrag das Warten als Existenzmodus
mit Konzepten der Nicht-Beziehung, mit Überlegungen zu dissoziativen Zuständen
so wie einem Gefühl der Unlebendigkeit, das sich u.a. in der Depression zeigen kann.
Als Leben auf Standby beschreibt er ein Zustandsbild, das mit der Unfähigkeit,
Objektbesetzungen zu entwickeln oder die Repräsentanz des verlorenen Objekts
aufrechtzuerhalten, einhergeht. Im Sinne Winnicotts könne «existentielles Warten»
als Abwehr gegen einen Zusammenbruch verstanden werden, und die Dissoziation
als Warten im Zwischenzustand: Im Warten könne man sich der Welt entziehen. Die
therapeutische Situation sieht Lehner dabei als Übergang, in dem man im Warten
des anderen aufgehoben sein wie auch die Zeit des Wartens kreativ genutzt werden
kann. So seien sowohl Phantasie als auch Realitätssinn im psychoanalytischen
Verständnis aus dem Warten geboren worden. Um von der äusseren Welt zur seelischen Realität zu gelangen demonstriert
Dominic Suter am Fall von «Camille», wie er therapeutisch arbeitet: So setzt er bei
der Angst an und nähert sich mittels Judith Le Soldats ödipaler Theorie der inneren
Bühne seiner Patientin durch genaue Beobachtung und Analyse einzelner Wörter,
der Sukzession des Assoziierten und der Übertragung bzw. Gegenübertragung an,
um infolge das ödipale Geschehen mit der damit einhergehenden Kastrationsangst
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zu mindern bzw., nach Le Soldat, anzuerkennen, dass beide Geschlechter beides
wollen: die Erfüllung des passiv-genitalen Wunsches «nach Innen» und des aktiven
Wunsches, sich «nach Aussen» zu zeigen. Patrick Gross und Lisa Schmuckli gehen in ihrem Essay der hochaktuellen
Frage nach, wie sich unter dem Blick des Anderen Körper und Geschlecht for -
mieren, und wie sich das vorherrschende Blickregime auf trans Menschen aus-
wirkt. Sie erörtern das nicht zuletzt bei trans Menschen weite Konfliktfeld von
Geschlechtlichkeit in Innen- und Aussenwelt und liefern zur allgegenwärtigen
Angst sozialgeschlechtlicher Verfehlungen gerade die für trans Menschen vieler -
orts bedrohliche Situation in einem Dazwischen, einem Nicht-Ort zu landen, an
dem sie zumeist folgenschwer weder als Mann noch als Frau (an)erkannt werden. Des Weiteren fordern medizintechnische Machbarkeiten die Organisation
von Innen und Aussen noch in ganz anderer Weise heraus und weisen einmal mehr
auf Zwischenräume hin: Ute Auhagen-Stephanos berichtet in ihrem Beitrag von
ihrer langjährigen Arbeit mit Patientinnen, die gleichzeitig reproduktionsmedizi-
nische Massnahmen wie bspw. In-vitro-Fertilisationen in Anspruch nehmen und
betont deren möglichen Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Bindung. Dazu stellt
sie anhand von Fallbeispielen ihren therapeutischen Ansatz des pränatalen Mut-
ter-Em bryo-Dialogs zur Förderung der psychischen wie physischen Bindung vor.
Thomas Auchter wendet sich in anderer Form fehlender Bindung im Sinne
einer Verwurzelung zu. Entwicklungspsychologische Aspekte der Heimatbildung
anführend zeigt er Befunde zu Heimatverlust und ihren psychosozialen Folgen
auf. In Ergründung des Heimatbegriffes legt er dar, wie Innen und Aussen zusam-
mengehören und jenes Zwischen im Sinnbild einer Türe – in ihrer Funktion des
Sich-Abgrenzens und Sich-Öffnens – verstanden werden kann. Zudem sieht er im
Fehlen einer inneren, psychischen Heimat begünstigende Faktoren für rechtspo-
pulistische und fremdenfeindliche Tendenzen. Psychotherapeutisch empfiehlt
er die notwendige Förderung einer inneren Heimat und sieht die Psychoanalyse
als Möglichkeitsraum, in dem sich Patientinnen und Patienten mit dem Schaffen
neuer (innerer) Beheimatung auseinandersetzen können. Diese Thematik findet sich auch im Text von Sandra Rumpel, Antonia
Stulz- Koller, Marianne Leuzinger-Bohleber und Ursula Hauser Grieco wieder. Ent-
stan den aus den Beiträgen einer Pandemie-bedingt verschobenen Tagung zum
Thema «Aufbrechen – Ankommen» befassen sich die Autorinnen mit der be -
son deren Gefährdung von Kindern und Jugendlichen sowie jungen Müttern im
Zusammenhang mit traumatisierenden Erlebnissen bei Flucht und Migration.
Diese Vulnerabilität sei begründet durch besonders kritische Entwicklungsphasen,
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die zu bewältigen seien. Das für diese Klientel spezifische Angebot der «aacho-
Projekte» wird beschrieben und anhand von Falldarstellungen illustriert. Des Wei-
teren wird Bezug genommen auf die pandemischen Verhältnisse als besonders
bedrohlich für traumatisierte Geflüchtete und diskutiert, in welcher Weise die
Psy choanalyse zur Bewältigung erneuter traumatogener Erfahrungen in diesem
Umfeld eingesetzt werden kann. Diana Pflichthofer schliesst zum Ende mit einem psychoanalytisch-kri-
tischen Blick auf die fortdauernde Corona-Pandemie, welche neue, unheimli-
che innere und äussere Realitäten erzeuge. Unter dem Druck dieser neuartigen
Krise drohten Übergangsräume zerstört zu werden. Jene bilden für Pflichthofer in
Analogie zum Spiel ein Zwischenreich, in dem innere und äussere Realität zu sam-
men fliessen und die Fähigkeit mit sich brächten, widerstreitende, auch kontroverse
Positionen und Entwicklungen individuell und gesellschaftlich auszuhalten bzw.
in positive Bewältigung münden zu lassen. Diese psychische Leistung scheine in
der Gegenwart besonders herausgefordert und verlange in ihrer Wiedererlangung
bzw. Aufrechterhaltung auch, den Blick auf sich selbst zu richten. Hingegen den Sommer im hoffnungsvollen Blick wünschen wir Ihnen ob
im frühsonnigen Aussen, spätregnerischen Innen oder einfach Zwischendurch
eine anregende Heftlektüre!
Für die Redaktionsgruppe: Vera Luif und Laura Wolf