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Editorial

Marie-Luise Hermann

Wo und wie wird Psychoanalyse heute praktiziert? Welchen Spannungs­feldern ist dieses Praktizieren ausgesetzt, wenn AnalytikerInnen hinausgehen in Handlungsräume von Institutionen? Und was bringen sie in die Institution hinein, welche Haltung, Denkkultur und Techniken?

Wir haben im Call for Papers nach Anwendungsformen der Psychoanalyse und psychoanalytischen Psychotherapie gefragt, und wie wir den Auftrag ver­stehen, unsere spezifische Kompetenz in Institutionen einzubringen, als Teil der Gesellschaft und als Teil des Gesundheitswesens. Welche Chancen bieten sich zur Vermittlung und Anwendung unseres Menschenbildes? Wo liegen Schwierigkeiten und Grenzen der Einzelnen mit gesetzten Strukturen? Und worauf richtet sich der Blick gesellschaftskritischer Institutionsanalyse?

Wir wurden überwältigt von der Vielfalt und Menge an Beiträgen, es schei­nen insbesondere brennende Fragen der in Institutionen tätigen jüngeren und mittleren Generation zu sein. Wie angeregt reichen die Perspektiven von Weiter­bildungsteilnehmenden bis zur Leitungsposition und Supervision von Teams.
Das Heft spannt einen Bogen, indem zunächst erfahrene KlinikerInnen grundsätzliche Fragestellungen, theoretische Konzepte, Probleme und ihre prak­tischen Lösungsansätze für verschiedene klinische Settings vorstellen. Anschlies­send erfahren wir in der Chronologie der Lebensalter, für welche seelischen Entwicklungsanforderungen und psychosozialen Konfliktlagen vom Kleinkind bis zum alternden Menschen Hilfe und Unterstützung gesucht wird, und welche psy­choanalytischen Antworten möglich sind. Am Ende steht wieder das klinische Setting in gesellschaftskritischer Diskussion seiner Funktionen mit einer überraschenden Zukunftsvision.

Gemeinsam ist den Reflexionen und Erfahrungsberichten eine gelebte Lei­denschaft, das Ringen um eine psychoanalytische Haltung, das Verstehenwollen komplexer Vorgänge des Individuums, Familiensystems, Teams und institutionel­len Rahmens und die Fähigkeit des analytischen Containing von schwer erträglichen, unbewussten Gefühlszuständen. Gesamthaft kommen sie zum Schluss: Die psychiatrischen und psychosozialen Behandlungssettings brauchen das ver ­ tiefte Verständnis der Psychoanalyse im ganzen Spektrum von Konflikten und Erkrankungen. Aber auch die Psychoanalyse braucht die Institutionen als Lern­-, Forschungs­- und Anwendungsfelder, nicht nur für die Ausbildung eines interes­sierten Nachwuchses, sondern auch für ihr eigenes Weiterleben.

 Das Anliegen der Autorinnen und Autoren war vor allem, ihr tägliches Han­deln und ihre eigenen Rollen im System zu bestimmen und kritisch zu hinterfra­gen. Psychoanalytische Positionen werden im Spannungsfeld fremder Kategorien und institutioneller Variablen mit Argumenten und Überzeugungen verfochten. Hingegen wurde weniger ein Forum für systemkritische Analysen gesucht. Die AnalytikerInnen sind mehr bei sich selbst geblieben und haben ihre Konflikte in und mit der Institution wenig externalisiert oder politisiert.

Nicht explizit benannt wird, dass alle AutorInnen auch in einem Abhäng­igkeitsverhältnis stehen – als Angestellte einer Institution, die als Arbeitgeber Vorgaben macht und Gratifikationen anbietet.1  Kritik setzt an gesundheitspoliti­schen Entwicklungen und der Biologisierung der Psychiatrie an, aber nicht an der Institution als solcher. Sind es doch zugleich die Nischen innerhalb des Gesund­heits­- und Beratungssystems, die unbedingt geschützt werden wollen, als Orte des Einflussnehmens und als Experimentierfelder heutiger psychoanalytischer «best practice».

Abhängigkeiten bestehen jedoch auch in der freien Praxis, wenn nicht von Krankenversicherern, dann von den Menschen, die sich die Dienste der Seel­-Sorge leisten. Auch in einem Arbeitsbündnis ist ein regelhaftes Setting «institutionali­siert», das Standesregeln entsprechen muss und beide Seiten vor Missbrauch der Abhängigkeit schützt. Unser Be­handeln ist auch ein Behändigen, das Geben und Nehmen von Zeit und Geld für die Arbeit des Analysierens. Es ist illusionär, frei von Institutionellem arbeiten zu können.

Das Fertigstellen der Manuskripte und des Editorials fällt in die ungewissen Wochen Ende März 2020. Die Kette sich verschärfender Massnahmen zur Eindämmung der Corona­-Pandemie zwingt auch uns AnalytikerInnen zu laufenden Anpassungen unserer therapeutischen Angebote, in- und ausserhalb der Institution. Umgeben von Unsicherheiten erleben wir auch, dass unser unverwandtes Zuhören, Dableiben, Verbindung Aufrechterhalten und Verstehen der Ängste für die meisten KlientInnen, AnalysandInnen oder PatientInnen unverzichtbar und haltgebend ist. Es führt uns vor Augen, wieviele wechselnde Setting ­Parameter die analytische Haltung und unsere Art des Arbeitsbündnisses aushalten, und welche Hilfe zum Bewahren einer inneren und äusseren Struktur wir anbieten können und in Notlagen auch müssen. Das ist die wichtigste Erfahrung, auch für uns in der Zwei­-Meter-Abstand-­Praxis oder in der virtuellen Telefon­ oder Bild­-zu­-Bild­-Home­-Treatment­-Verbindung: Ein ungewisses Drama kommt auf uns zu, aber wir blei­ben im Haltgeben, Aufnehmen, Aushalten, gemeinsam Überleben – im Vertrauen darauf, dass unsere Settings wandlungs- und überlebensfähig sind.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren herzlich für ihren engagierten, ehrlichen und mutigen Blick in die eigenen Therapie­ und Beratungsräume, der uns zum Weiterdenken herausfordert.

Für das Redaktionsteam: Marie­-Luise Hermann

Anmerkung
1 Für die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen institutionellen Organi­sationsform verweisen wir auf das Journal­-Heft 48 «30 Jahre PSZ. Institutionalisierung/ Des­-Institutionalisierung», das wie nun alle Hefte des Journals ab 2007 online auf unserer Homepage frei verfügbar ist (www.psychoanalyse­-journal.ch).